In memoriam Tadeusz Boy-Żeleński
Am 04. Juni 2021 jährte sich zum achtzigsten Mal die Ermordung Lemberger Professoren – ein nationalsozialistisches Kriegsverbrechen, das bis heute in Deutschland recht unbekannt blieb. Es geschah, als die deutsche Wehrmacht die nach dem Hitler-Stalin-Pakt 1939 sowjetisch gewordene polnische Stadt Lemberg eroberte. Diese Tat ereignete sich im Rahmen der Richtlinien des Reichssicherheitshauptamtes zur Vernichtung der polnischen Intelligenz.
Im Jahre 2007 veröffentlichte Dieter Schenk ein Buch unter dem Titel Der Lemberger Professorenmord und der Holocaust in Ostgalizien. Darin ermittelt der Autor, der in der breiteren Öffentlichkeit durch seine kritischen Veröffentlichungen und Vorträge zur Tätigkeit der Polizei während des Zweiten Weltkrieges bekannt wurde, die Hintergründe und die Täter der Morde an 25 polnischen Professoren und deren Familien, die im Juni 1941 von einer Einsatzgruppe der SS unter dem Kommando von Eberhard Schöngarth verübt wurden.
Zu den Opfern dieses Verbrechens, das in den Lemberger Wulka-Hügeln stattfand, zählt unter anderem Tadeusz Żeleński. Als Satiriker, Dichter, Literatur- und Theaterkritiker sowie als Übersetzer französischer Literatur gehörte er zu den schillerndsten Persönlichkeiten des polnischen Kulturlebens zwischen den beiden Weltkriegen.
Tadeusz Boy-Żeleński, Fotoquelle: wikipedia.org
Tadeusz Żeleński, Pseudonym Boy, wurde am 21. Dezember 1874 in Warschau geboren. Sein Vater Władysław Żeleński war ein bekannter polnischer Komponist und Dirigent. Seine Mutter, Wanda Grabowska, erhielt eine humanistische Erziehung bei Narcyza Żmichowska, einer einflussreichen Pädagogin und Schriftstellerin. Żeleńskis Elternhaus war eine wichtige Begegnungsstätte für polnische intellektuelle Eliten. Im Jahre 1881 verließ die Familie Żeleński Warschau und zog nach Krakau, wo Tadeusz seine schulische und universitäre Laufbahn absolvierte. Während des Medizinstudiums unterhielt Żeleński enge Kontakte zur Krakauer Bohème, was seine kritische Einstellung der traditionellen polnischen erzieherisch und patriotisch wirkenden Literatur gegenüber prägte. Einen Wendepunkt in Boys Biographie stellt sein erster mehrmonatiger Aufenthalt in Paris im Jahre 1900 dar. Statt in der französischen Hauptstadt sein medizinisches Wissen zu erweitern, entdecke Żeleński dort seine Liebe zur französischen Literatur und zu den Pariser Kabaretts. In den Jahren 1901-1920 war er hauptsächlich als Kinderarzt tätig. Während des Ersten Weltkriegs wurde er zum Militär einberufen und arbeitete in einer Bahnhofsambulanz in Krakau. Die Arbeit als Mediziner zwang ihn nie zum Verzicht auf seine literarischen Vorlieben und Aktivitäten. Mit seinen satirischen Schriften und Scherzliedern unterstützte er das im Jahr 1905 in Krakau gegründete Kabarett „Zielony Balonik“ („Grüner Ballon“). Die Zeit der Zusammenarbeit mit dieser Bühne prägte Żeleńskis Entwicklung als Autor und als Übersetzer stark. Bereits im Jahre 1900 publizierte er in der Krakauer Zeitschrift „Czas“ („Die Zeit“) seine ersten Übersetzungen aus dem dichterischen Zyklus Les Fleurs du mal von Charles Baudelaire. Einige Jahre später begann er, systematisch die größten Werke der französischen Literatur zu übersetzen, zu kommentieren und zu popularisieren. Auf diese Weise entstand im Laufe der Jahrzehnte die sogenannte „Bibliothek Boys“, welche mehr als einhundert von ihm aus dem Französischen übersetzte Texte umfasst. Darunter befinden sich Titel aus allen historischen Epochen, angefangen bei dem mittelalterlichen Chanson de Roland, bis hin zu À la recherche du temps perdu von Marcel Proust. Zu Boys Lieblingsautoren gehörten Molière und Balzac sowie die Schriftsteller der Aufklärungsepoche. Neben der Arbeit als Übersetzer war Żeleński ebenfalls als Literatur- und Theaterkritiker tätig.
In den Jahren 1929-1933 führte Żeleński große publizistische Kampagnen, in denen er die legendenhafte, unreflektierte Sicht auf polnische Nationalhelden bekämpfte. Den Anfang dieses Vorhabens markiert die Veröffentlichung des Buches Brązownicy (Die Bronzemacher), welches kritische Kommentare zu Werken und zur Biographie von Adam Mickiewicz, dem größten polnischen Dichter der Romantik beinhaltet. Es folgten weitere Abhandlungen dieser Art, die anderen bekannten historischen Persönlichkeiten gewidmet waren. Da diese Analysen mit der langen polnischen Tradition brachen, die Nationalhelden und Kulturschaffenden hagiografisch zu betrachten, weckten sie kritische und feindselige Stimmungen gegen Boy und öffneten eine langwierige Diskussion über den Umgang mit historischen Persönlichkeiten.
Zur gleichen Zeit schrieb Żeleński weitere polemische Texte wie: Dziewice konsystorskie (Konsistoriale Jungfrauen), Piekło kobiet (Frauenhölle) und Nasi okupanci (Unsere Okkupanten), die sich aktuellen gesellschaftlichen Problemen widmeten. Er plädierte darin für die Liberalisierung des Ehe- und Scheidungsrechts, für die Notwendigkeit der Legalisierung der Abtreibung und für die Einschränkung der Einflussnahme der polnischen Kirche auf die Gesellschaft und auf politische Entscheidungen.
Boys starkes Engagement in den publizistischen Auseinandersetzungen über heikle soziale und geschichtliche Themen löste eine große Welle der Empörung und Proteste seitens der Kirche, konservativer Politiker und Journalisten aus, die bis zum Ausbruch des Zweiten Weltkriegs anhielt. Es wurden mehrere Versuche unternommen, Żeleńskis literarische und translatorische Aktivität zu diskreditieren und ihn selbst als amoralischen Nestbeschmutzer zu brandmarken.
Die letzten zwei Jahre seines Lebens verbrachte Żeleński in Lemberg (Lwów), wohin er Anfang September 1939, ähnlich wie zahlreiche Personen des öffentlichen Lebens, noch vor dem Einmarsch der deutschen Wehrmacht in Warschau, evakuiert wurde.
Nach dem Hitler-Stalin-Pakt wurde Lemberg von der Roten Armee besetzt und das öffentliche Leben von den sowjetischen Kommissaren organisiert. Obwohl Żeleński dort zunächst als Privatperson bei seiner Verwandtschaft weilte und wieder als Kinderarzt arbeitete, blieb sein Aufenthalt in Lemberg nicht unbemerkt. Die polnischen linksorientierten Literaten ermunterten ihn, sich an dem von den Sowjets organisierten Kulturleben zu beteiligen. Im November 1939 unterschrieb Boy gemeinsam mit einer Reihe von polnischen Schriftstellern eine offizielle Erklärung, die die Vereinigung der Ukraine mit der Sowjetunion begrüßte. Lediglich einige Tage nach diesem Ereignis wurde er zum Universitätsprofessor ernannt und begann an der Lemberger Universität Vorlesungen über die französische Literatur zu halten. Boys Entscheidung, in Lemberg zu bleiben und aktiv die kommunistischen Eliten zu unterstützen, hatte in vielerlei Hinsicht fatale Folgen. Jeder seiner Schritte wurde von den sowjetischen Machthabern überwacht und von den polnischen patriotischen Kreisen nach Möglichkeit heftig kritisiert.
Einige Tage nach dem Kriegsausbruch zwischen Deutschland und der Sowjetunion, am 30. Juni 1941, wurde Lemberg von der Wehrmacht eingenommen. Es begannen zahlreiche Inhaftierungen von Personen, die in der Stadt eine politische oder kulturelle Rolle spielten. Żeleński und seine Verwandtschaft wurden am 3. Juli verhaftet und einen Tag später gemeinsam mit anderen Universitätsprofessoren und deren Familien erschossen.
Im Jahre 1943, kurz vor dem erneuten Einmarsch der Roten Armee in Lemberg, wurden die Massengräber aus dem Jahr 1941 von der Gestapo geöffnet, die menschlichen Überreste verbrannt, um dieses Verbrechen zu vertuschen.
Bis heute hat Tadeusz Boy-Żeleński nicht einmal ein symbolisches Grab. Boys Persönlichkeit polarisiert nach wie vor die polnischen Intellektuellen, die sich entweder begeistert über dessen kulturelles und soziales Engagement äußern, oder Żeleńskis linksorientierte Tätigkeit scharf kritisieren und seinen Beitrag für die Kultur des Landes geringschätzen oder vernachlässigen.
Den historischen Recherchen nach wird die Verantwortung für das Ermorden der Lemberger Professoren dem Brigadeführer Eberhard Schöngarth, dem damaligen Befehlshaber der Sicherheitspolizei und des SD (BdS) in Kraków zugeschrieben, der ebenfalls für die Verhaftung der Professoren der Jagiellonen-Universität im Rahmen der Sonderaktion Krakau im November 1939 verantwortlich war.
Dieter Schenk gelang es auf der Grundlage des Studiums der Akten der Hamburger Staatsanwaltschaft, der Berichte der Einsatzgruppen im Bundesarchiv sowie der Ermittlungsakten der Ludwigsburger Zentralstelle, das bisherige Wissen über die Mörder der Lemberger Professoren und über ihre Nichtverfolgung in der Bundesrepublik zu erweitern und zu präzisieren.
Wie Schenk in seinem Buch nachweist, unternahm die Staatsanwaltschaft Hamburg zwischen den 60-er und 90-er Jahren alles juristisch Mögliche, um die rechtliche Verfolgung der namentlich bekannten Kriegsverbrecher zu unterbinden. Trotz mehrfacher Versuche gerichtlicher Aufarbeitung wurden die Ermittlungsverfahren 1994 endgültig eingestellt. Diese Gräueltat bleibt ungesühnt.
Neben dem erwähnten Buch Dieter Schenks gibt es noch weitere deutschsprachige Titel, die sich mit dem Lemberger Professorenmord befassen:
Mut ist angeboren. Erinnerungen an den Krieg 1939–1945 von Karolina Lanckorońska (2003)
Blutiges Edelweiß – Die 1. Gebirgs-Division im Zweiten Weltkrieg von Hermann Frank Meyer (2008)
Der Verlauf und die Täter des Lemberger Pogroms vom Sommer 1941. Zum aktuellen Stand der Forschung von Grzegorz Rossoliński-Liebe, erschienen in Jahrbuch für Antisemitismusforschung (2013)
M. Broll
Quellen:
http://www.dieter-schenk.info/Anhang/Lemberg/Lemberg%20und%20Ostgalizien.pdf
https://de.wikipedia.org/wiki/Dieter_Schenk
https://dewiki.de/Lexikon/Massenmorde_in_Lemberg_im_Sommer_1941
Tadeusz Boy-Żeleński – Gehirn und Geschlecht oder die Literatur des Siècle des Lumières; – Angaben zum Autor
Im Pigmentar Verlag erschien 2015 die Übersetzung des Buches von Tadeusz Boy-Żeleński – Gehirn und Geschlecht oder die Literatur des Siècle des Lumières
Eine Leseprobe davon finden Sie [hier …]