Einführungsvortrag K. Kösters – Ausstellung Junge Kunst im Dialog mit Künstlern der klassischen Moderne

Zwischen Gegenständlichkeit und Abstraktion

Junge Kunst im Dialog mit Künstlern der klassischen Moderne

Eine Ausstellung des Kunstvereins Soest in Kooperation mit der Bürgerstiftung Hellweg vom 4. 9. bis 31.10. 2021

 

Der ursprüngliche Einführungsvortrag von Klaus Kösters wurde für diese Online-Publikation ergänzt.

Klaus Kösters

Vor 100 Jahren gab es in Soest eine Kunstavantgarde, die als „Junge Soester Kunst“ bezeichnet wurde. Die damaligen Arbeiten vereinen expressionistische, abstrakte und neusachliche Stilrichtungen. Eine Ausstellung im Museum Wilhelm Morgner in Soest im Herbst 2021 geht den Spuren dieser Künstler nach und vereint die wichtigsten Werke der damaligen neusten Kunst.

100 Jahre später, ebenfalls im Herbst 2021, hat der Kunstverein Kreis Soest e. V. junge Künstler und Künstlerinnen unserer Zeit eingeladen, mit ihren Werken in einen Dialog mit den Künstlern der klassischen Moderne einzutreten. Viele aus allen Teilen Deutschlands sind dem Ruf gefolgt und haben ihre Arbeiten eingereicht. Daraus ist eine moderne Avantgardeausstellung unterschiedlichster Stilrichtungen geworden, die nicht nur auf die Künstler der damaligen Avantgarde antwortet, sondern auch auf hohem Niveau ein Spiegelbild der Kunst unserer Zeit gibt.

Der Katalog vereint die Werke der eingeladenen Künstlern und Künstlerinnen einschließlich ihrer eigenen Reflexionen über ihre Kunst.

Der Maler Wassily Kandinsky schrieb 1913 auf dem Höhepunkt der expressionistisch-abstrakten Kunst:

„Die abstrakte Malerei verlässt das Haupt der Natur, aber nicht ihre Gesetze. Erlauben Sie mir das große Wort, die kosmischen Gesetze. – Der abstrakte Maler bekommt seine ‚Anregungen’ nicht von einem x-beliebigen Stück Natur, sondern von der Natur im Ganzen, von ihren mannigfaltigen Manifestationen, die sich in ihm summieren und zum Werk führen.“

Wilhelm Morgner stand künstlerisch im Bannkreis Kandinskys, und so führt dieses Zitat auch in das Wesentliche, was Morgners Kunst nach seinen ersten Anfangsjahren ausmacht, als er den Schritt in die Abstraktion wagte. Er ringt in seiner Kunst um diesen inneren Blick, um diesen Eintritt in die Welt abstrakter Formen.

Morgners künstlerisches Ziel ist die hinter der Erscheinungswelt verborgene tiefere Wahrheit der Welt zu erkunden, ein Ziel auf dessen Suche die gesamte Kunst seiner Zeit war. Morgner folgt auch hier Kandinsky, der ihm den Weg zur Theosophie öffnet. „Die gegenwärtige Kunst verkörpert das zur Offenbarung gereifte Geistige, schrieb Kandinsky. Und bei Morgner heißt es: “Und das Kunstwerk wird der sichtbar gewordene Geist sein.“

Die Kunst vor dem Ersten Weltkrieg leitete einen vollständigen Paradigmenwechsel in der Kunst ein, der bis heute nachhallt. Das alte Verständnis von Kunst als Mimesis, als Nachahmung der Natur, hatte ausgedient. Die bildnerische Veranschaulichung transzendenter Kräfte und kosmischer Rhythmen bedurfte einer neuen Bildsprache jenseits des äußeren Naturbildes.

 

Die an der Ausstellung beteiligten Künstler waren aufgerufen, sich in ihren Arbeiten auf die Künstler der klassischen Moderne zu beziehen. Denn das künstlerische Spannungsfeld zwischen Abstraktion und Gegenständlichkeit ist heute nach wie vor aktuell. Die ausgestellten Arbeiten zeigen dies sehr eindrucksvoll.

Viele ihrer Arbeiten folgen der Leitlinie der abstrakten Kunst. Was sich aber verändert hat, ist die Sinngebung oder künstlerische Intention der Arbeiten. Die damaligen Künstler um Kandinsky und Morgner hatten ein klares Sendungsbewusstsein, das auf uraltem hermetischen Gedankengut fusst: der Einheit von Mikrokosmos und Makrokosmos. Sie sahen sich als Seher und Propheten, um den Menschen den Weg zu weisen, die verlorene Einheit mit den kosmischen Kräften der Natur wiederzufinden. Vor 100 Jahren, in einer Zeit rasanter Wandlungen durch Industrialisierung, durch neue Erfindungen und Erkenntnisse in Physik und Technologie, in einer Zeit des vorherrschenden Rationalismus und Utilitarismus, knüpften sie an romantische Vorstellungen und metaphysische Konzepte einer beseelten Natur an, um einen Gegenentwurf zu der materialistischen Moderne des Industriezeitalters zu schaffen.

Heute, 100 Jahre später, spielt theosophisches, bzw. anthroposophisches Gedankengut so gut wie keine Rolle mehr.

Aber einige Arbeiten, wie die von Kathrin Edwards, sind den expressionistischen Künstlern nahe, wenn sie die Schönheit der Natur und die Einheit von Mensch und Natur zum Thema ihrer Arbeiten macht, wenn auch in einer vollständig anderen Formensprache.

Gegenüber der Generation der klassischen Moderne hat die Kunst sich weiterentwickelt. Damals gab es eine rasante Folge von neuen Stilrichtungen, die durch Expressionismus, Futurismus, Kubismus, Konstruktivismus und dann etwas später durch die Neue Sachlichkeit bestimmt waren und denen sich die avantgardistischen Maler stellten. Heute hat sich die Kunst durch neue Verfahren wie die Kombination von klassischer Malerei und Fotografie, digitaler Bildbearbeitung sowie neue Drucktechniken erweitert. Aber dennoch, Verbindungslinien zwischen dem Gestern und Heute lassen sich immer noch ziehen.

Klaus Kösters

Viele der im Kunstverein ausgestellten Arbeiten schaffen eigene, abstrakte Bilderwelten, die schwer hinterfragbar sind und die Kunst in ein eigenes Reich transportieren. Eine solche Kunst wird zu einer „Eigengesellschaft“, ein selbstreferentielles System. Der Soziologe Niklas Luhmann hat ein solches System „autopoietisch“ genannt, eine Form der Selbstorganisation, die es ihr ermöglicht, sich aus sich selbst heraus zu reproduzieren.

Benjamin Tiberius Adler schreibt: „Gute Kunst funktioniert ohne Erklärung“, dann steht er in der Tradition der klassischen Moderne. Der Kunsthistoriker Wilhelm Worringer, der vor 100 Jahren großen Einfluss auf die Entwicklung der abstrakten Kunst hatte, schrieb in seiner Dissertation 1914, „Abstraktion und Einfühlung“: “Unsere Untersuchungen gehen von der Voraussetzung aus, dass das Kunstwerk als selbständiger Organismus gleichwertig neben der Natur und seinem tiefsten innersten Wesen ohne Zusammenhang mit ihr steht, sofern man unter Natur die sichtbare Oberfläche der Dinge versteht. “

Autonome, abstrakte Formen, die sich wie kalligraphische Zeichen zu einer harmonischen Komposition zusammenfügen, finden sich in dem Heft „Happy Birthday“ von Edgar Daniel. Näher am Gegenständlichen ist seine Hauptbahnhofszene, die in Form eines mit viel Humor gestalteten zeichnerischen Wimmelbildes eine utopische Stadt vorstellt.

Ungewöhnliche Materialien wie Lack, Tesafilm und Zwiebelnetz verbinden sich in Sandra Fleglers Komposition „Omission Illusions“ zu einem Bild, dass durch den Gegensatz zwischen warmen Rot und kaltem Weiß-Blau bestimmt wird.

Die C-Prints von Florian Gaubitz gehen von keramischen Oberflächen aus, die durch die fotografischen Ausschnitte abstrakte Formen und Muster bilden. Verschiedene Materialien, Motive und Genres verschmelzen zu einer neuen ästhetischen Einheit.

Das Bild „Der böse Apfel“ von Vignesan Shanmuganathan verweist auf die Anfänge der abstrakten Kunst im Pointillismus, wenn er über die Paradiesszene mit Eva und dem Apfel eine neue Bildstruktur mit einem Punktstempel legt. Gleichzeitig hat die bekannte Bibelstelle den Künstler durch die malerische Verfremdung zu neuen Fragen angeregt.

Gedankenkunst, wie sie vor 100 Jahren Morgner und die Künstler des „Blauen Reiter“ vertraten, ist heute Geschichte. Aber mit der Kunst gesellschaftliche Strukturen und Problembereiche aufzudecken und den Kunstbetrachter zu Nachdenken zu bringen, ist eine jahrhundertealte Aufgabe von Kunst, die auch in unserer Zeit viele Künstler bewegt.

David Carol Fedders untersucht in seinen Arbeiten das Verhältnis von Natur und Kultur unter dem Stichwort der Vergänglichkeit. Natürliche und industrielle Materialien werden nachts im urbanen Raum gesammelt und zu Kompositionen verarbeitet.

Heute wirft auch die digitale Revolution Fragen auf, die die Rolle des Menschen in einer Welt zunehmend künstlicher Intelligenz hinterfragt. Einige Arbeiten versuchen mit Hilfe der Kunst dies Thema aufzugreifen.

Julia Firmbach stellt die Frage nach dem was echt ist in einer Zeit, in der eine Informationsflut uns überrollt. Der einzelne ist auf sich zurückgeworfen und sucht nach Orientierung.

Zhiyi Lui untersucht in seinen Arbeiten die Übertragung, Verbreitung und endgültige Ausgabe von Information – also wie Menschen Information jeglicher Art aufnehmen, verarbeiten und ggf. subjektiv verfremden. In einer Zeit von Fake-News ein notwendiges Korrektiv durch Kunst.

Tatiana Vishnyakova fragt nach den Spuren, die die digitale Kommunikation hinterlässt. Das Seeungeheuer „Leviathan“ aus der jüdischen Mythologie taucht in ihrer Collage als Walschädel auf und wird zu einem bedrohlichen Symbol ausufernder digitaler Informationssammlung.

Jakob Gaumer malt Detailansichten von Werkzeugen und verweist auf die aufwändige Inszenierung von Arbeitsgeräten in der Werbung. In seinen Bildern legen die Close-up Ansicht und der Hell-Dunkel-Kontrast der Lichtführung die gestalterischen Werbestrategien offen.

Das Thema der entfremdeten Arbeit entstand mit der Industrialisierung und der kapitalistischen Profitorientierung und führte im Expressionismus zu einem ganzheitlichen Gegenmodell unter dem Stichwort „Leben“. Bei Morgner und anderen jungen Künstlern damals war dieser Begriff aufgeladen mit einer Vielzahl von Bedeutungen, die Natürlichkeit und Innerlichkeit, geistige Schöpferkraft sowie Suche nach Ganzheitlichkeit umfassten.

Emil Wesemann verarbeitet alltagspolitische und subjektive Erfahrungen rund um den Begriff „Arbeit“, in erster Linie „emotionale Arbeit“. In seinen gemalten fiktiven Räumen stehen die Figuren, wie er selbst sagt, in einem „Spannungsverhältnis zwischen Apokalypse und fiktionalen Zukunftsvorstellungen“. 150 Jahre vorher hatte dies Karl Marx mit entfremdeter Arbeit bezeichnet, wobei allerdings sein Fokus damals auf die materiellen Verhältnisse gerichtet war.

Entfremdung ist der Verlust von Orientierung. Das ist das Thema von Nina Wolf, wenn sie typische und atypische Rollen von Frauen malerisch hinterfragt. Ihre „sich auflösende Frau“ versucht ihre Rolle nach innen und außen zu finden, so wie 100 Jahre früher die Selbstdarstellung zahlreicher Künstler – wie z. B. Wilhelm Morgner – ebenfalls eine Suche nach der eigenen Identität war.

Ironisch geht Margarethe Ucinsky mit der weit verbreiteten Siegermentalität in unserer vom Konkurrenzdenken bestimmten Gesellschaft um, wenn sie in bizarren abstrakten Formen einen posierenden Held mit zum Siegerzeichen erhobenen Armen karikiert.

Die Grundrisse von vier isländischen Aluminiumschmelzen, von denen die letzte durch den Widerstand der Bevölkerung verhindert wurde, verarbeitet Philipp Valenta zu einer grafischen Folge — eine Art Schwanengesang auf das Industriezeitalter.

Die Ambivalenz von Feuer als Leidenschaft und Zerstörung hat Bissan Badran zu einer abstrakten Farbkomposition inspiriert, die auf selbst erlebte Feuersbrünste in Syrien zurückgeht.

Seit altersher erzählen Kunstwerke, vor allem Bilder, Geschichten. Diese klassische Aufgabe von Kunst hat Julius Reinders inspiriert, städtische Räume zu zeichnen, die als Bühne für das dienen, wie er selbst schreibt, „was erst noch entdeckt, erzählt oder erfunden werden kann.“

Klaus Kösters

Eine weitere klassische Aufgabe von Kunst war es, dem Betrachter eine Welt des schönen Scheins aufzuzeigen. Der Philosoph Immanuel Kant hatte diese heute traditionelle Betrachtungsästhetik vor 200 Jahren mit „interesselosem Wohlgefallen“ bezeichnet. Der Philosoph Ernst Bloch hatte Ende der 1950er Jahre sich mit diesem Begriff auseinandergesetzt. Er betont das Utopische in der Kunst, die das zeigt, was noch nicht existent ist. „Vorschein“ nennt er dies, eine realmögliche Wunschlandschaft, die in der Kunst vorweggenommen wird.

Michèle Rebys Wunschlandschaften zeigen kindliche Lebensfreude, Unbeschwertheit und Leichtigkeit. Angesichts der heutigen politischen Gemengelage in einer Welt der Konflikte und Krisen sind diese farbigen Bilder Erholung und Ansporn zugleich, nicht zu resignieren, sondern das ferne Ziel einer besseren, schöneren Welt im Auge zu behalten.

Ein Meer, das sich in Wolken auflöst, ein Vogel, der in die Meer-Wolken aufsteigt — Freiheit als Überwindung von Grenzen: der Linoldruck von Viktoria Plinke greift einen alten Menschheitstraum phantasiereich auf.

Figur in der Landschaft, Einswerden mit der Natur im Sinne pantheistischer Vorstellungswelten ist ein klassisches Thema der romantischen Landschaftsmalerei zu Beginn des 19. Jahrhunderts, die vor allem im Expressionismus die bildlichen Konzepte der Maler inspirierte.

Annekathrin Kempers Landschaftsbilder sind ein fernes Echo auf diese sehr deutsche Tradition der Landschaftsmalerei, wenn sie in ihren Arbeiten Impressionen vor allem aus Sylt in einer an die Tradition anknüpfenden, lasierenden Malweise zum Ausdruck bringt.

Viele Bilder der frühen abstrakten Maler wie Kandinsky oder František Kupka, sowie Wilhelm Morgner und Arnold Topp zeigen in ihren abstrakten Kompositionen auch gegenständliche Elemente, die sie in ihre Bilder einbinden.

Max Pimpernellis Bilder stehen in einem ähnlichen Spannungsverhältnis zwischen Figur und Ungegenständlichem, zwischen Abstraktion und Symbol.

Fotografische Details, architektonische Formen, unbestimmte Materialen werden in Patrick David Brockmanns Diasec Prints zu künstlichen Räumen zusammengestellt, deren vermeintliche Gegenständlichkeit sich sofort dem Blick des Betrachters entzieht und in einer irrealen Raumerfahrung mündet.

Auch Anastasia Batishcheva kombiniert gegenständliche und abstrakte Formen in ihrer Komposition. Figuration und Abstraktion stehen sich gegenüber, narrative und illustrative Elemente gehen eine Symbiose ein und bilden einen imaginären, geschichteten Raum.

Ziel dieser Ausstellung war es, dass junge Künstlerinnen und Künstler sich innerhalb der Spannweite zwischen Gegenständlichkeit und Abstraktion mit den Künstlern der klassischen Moderne auseinandersetzen. Entstanden ist eine Ausstellung, die nicht nur das Ausstellungsziel erreicht hat, sondern auch aufgrund ihrer künstlerischen Qualität alle Erwartungen übertrifft!

Klaus Kösters

Katalog zur Ausstellung

Zu dieser Ausstellung ist auch ein Katalog mit weiteren Texten von Klaus Kösters sowie Bildern und Texten der beteiligten Künstler erschienen.

Der Katalog ist erhältlich in der Geschäftsstelle des Kunstverein Kreis Soest e.V.